Ein offener Brief zum Koalitionsvertrag an Niels Annen

Veröffentlicht am 05.04.2018 in Allgemein

Lieber Niels,

nachdem die Parteibasis mit ihrem Votum für eine erneute Große Koalition den Parteivorstand darin unterstützt hat, ein weiteres Mal in eine Bundesregierung einzutreten, haben wir, die Genossinnen und Genossen im Distrikt Eimsbüttel-Nord, uns noch einmal intensiv mit den Passagen des Koalitionsvertrages auseinandergesetzt, die uns besonders am Herzen liegen.

Der vollständige Brief steht in diesem Artikel und hier zum Download bereit.

Wie du weißt, haben es sich viele von uns mit der Stimme für oder gegen den Koalitionsvertrag nicht leichtgemacht, wir haben miteinander und mancher mit sich selbst gerungen. Wir erlauben uns deshalb, euch, die ihr in Regierungsverantwortung steht, daran zu messen, wie ernst ihr es mit den Vorhaben aus dem Koalitionsvertrag nehmt, wenn es um deren konkrete Umsetzung geht. Dazu haben wir zu den Politikfeldern Wirtschaft und Finanzen, Digitalisierung und Migration die Punkte herausgearbeitet, die uns a) am wichtigsten erscheinen und ihr b) mit konkreten Zielen formuliert habt, sodass sie überprüfbar sind.

Die erneute intensive Auseinandersetzung mit dem Koalitionsvertrag hat uns geholfen, eure Agenda für die laufende Legislatur noch besser zu verinnerlichen. In Bürgergesprächen und bei Veranstaltungen werden wir uns denn auch künftig darauf beziehen, was ihr euch ins Pflichtenheft geschrieben habt – denn wir wissen, dass es nicht lange dauern wird, bis wir gefragt werden, was von euren Versprechen übriggeblieben ist.

Verstehe uns nun bitte richtig: wir wollen verstanden werden als Teil des politischen Systems, das eine Mit(erklärungs)verantwortung trägt und leiten daraus einen Anspruch auf Erfüllungsdisziplin ab. Für uns ist der Koalitionsvertrag nicht nur ein Vertrag zwischen der SPD und der Union im Bund. Für uns ist er auch eine Vereinbarung zwischen dem Vorstand und der Basis innerhalb der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands.

Wir sind einer der mitgliederstärksten Ortsverbände in der gesamten Republik. Wenn ihr gute Politik in Berlin macht, dann schaffen wir es auch, das vor Ort so weiterzuerzählen. Lass’ es uns gemeinsam anpacken, damit wir stolz auf unsere Arbeit sein können.

 

Aus dem Kapitel „Wirtschaft und Finanzen und Steuern“ des Koalitionsvertrags liegen uns die nachstehenden Punkte besonders am Herzen:

  • Die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ (GRW) soll weiterhin und auch gerade die wirtschaftlichen Strukturprobleme ländlicher und städtischer Räume adressieren. Sie soll auch zum Abbau des Strukturgefälles innerhalb von Bundesländern beitragen.

Wir halten dies für besonders wichtig, weil die Infrastruktur in vielen ländlichen Räumen immer weiter ausgedünnt wird und die Bewohnerschaft sich von „den Politikern“ mit ihren Problemen zunehmend alleingelassen fühlt.

  • Wir wollen Genossenschaften als nachhaltige und krisenfeste Unternehmensform in den unterschiedlichsten Wirtschaftsbereichen stärken. Dazu benötigen wir Maßnahmen, die eine starke Mitgliederbeteiligung unterstützen.

Hier fordern wir aus Eimsbüttel-Nord insbesondere, dass künftig die Genossenschaften genauso wie Kapitalgesellschaften Jahreshauptversammlungen für alle Mitglieder einberufen müssen, damit dort unter den Mitgliedern Kontakte geknüpft und die Kandidaturen für Vertreterversammlungen auch in Konkurrenz zu den Vorschlägen des bisherigen Vorstandes erleichtert werden. Bisher sind die Quoren für Kandidaturvorschläge zumeist so hoch, dass es einfachen Mitgliedern kaum möglich ist, die notwendigen Unterschriften dazu zusammenzubringen, weil man sich untereinander nicht kennt und die einzelne Mitgliedschaft anonym bleibt.

  • Um Deutschland für qualifizierte internationale Fachkräfte noch attraktiver zu machen, wollen wir ein Fachkräfteeinwanderungsgesetz verabschieden, mit dem wir den Zuzug qualifizierter Arbeitskräfte nach Deutschland ordnen und steuern.

Ein Gesetzentwurf ist unserem Wissen nach bereits vorhanden und könnte sicher unverzüglich verabschiedet werden.

  • Um die berufliche Bildung gerade im Handwerk weiter aufzuwerten, soll sie durch die öffentliche Finanzierung der Meisterprüfung dem kostenlosen Hochschulstudium stärker angeglichen werden.

Wir halten es für skandalös, dass immer noch viele, die eine Meisterprüfung ablegen wollen, dafür hohe Gebühren entrichten sollen und damit auf ihre Ersparnisse zurückgreifen müssen, sich verschulden oder auf die Unterstützung ihres Arbeitgebers angewiesen sind.

  • In diesem Rahmen werden wir eine Mindestausbildungsvergütung im Berufsbildungsgesetz verankern.

Uns ist bekannt, dass vielfach die Ausbildungsvergütung nicht ausreicht, um einigermaßen eigenständig ohne Unterstützung der Eltern im Ausbildungsverhältnis zu existieren. Daher gibt es Fälle, in denen Schulabgänger auf eine Ausbildung verzichten bzw. bei Konflikten mit den Eltern ihre Ausbildung abbrechen.

  • Prioritäre Ausgaben in den folgenden Schwerpunktbereichen…1.Investitionen in Zukunft: Bildung, Forschung, Hochschulen, Digitalisierung.

Hier muss darauf geachtet werden, dass die Fachbehörden nicht einfach schon bisher existierende Programme neu gruppieren und als Erfüllung dieses Programmpunktes ausgeben. Es muss zusätzliche Förderprogramme geben.

  • Die Abgeltungssteuer auf Zinserträge wird mit der Etablierung des automatischen Informationsaustausches abgeschafft. Umgehungstatbestände werden wir verhindern.
    • Dieser Programmpunkt sollte zeitnah und wie angekündigt wirklich ohne Umgehungstatbestände zu ermöglichen umgesetzt werden, um eine größere Steuergerechtigkeit bei der Besteuerung aller Einkommen zu erreichen.

 

Aus dem Kapitel „Digitalisierung“ des Koalitionsvertrags liegen uns die nachstehenden Punkte besonders am Herzen:

  • Die Chancen der Digitalisierung wollen wir nutzen, um den Beschäftigten mehr Zeitsouveränität zu ermöglichen.

Wir unterstützen euch darin, dass bei der Arbeitszeitgestaltung den vielfältigen Wünschen und Anforderungen der Arbeitnehmer Rechnung getragen wird. Wichtig ist uns dabei, dass Lockerungen bei Arbeitsort und –Zeiten nicht auf dem Rücken der Arbeitnehmer und auf Kosten der Belegschaft ausgetragen werden. Die SPD steht auch und insb. im digitalen Zeitalter für eine starke Arbeitnehmersolidarität!

  • In der Erwachsenenbildung wollen wir Programme und digitale Angebote für Menschen jeden Lebensalters fördern, die dem Erwerb von Digitalkompetenzen dienen, z.B. auch an Volkshochschulen und in Mehrgenerationenhäusern.

Uns sind Erwerb und Förderung von Digitalkompetenzen Kernanliegen! Wir sehen vor Ort, dass nicht mehr mitkommen, wenn ihnen die digitalen Kenntnisse fehlen. Die Förderung allein ans Alter zu knüpfen, greift allerdings zu kurz, wir müssen auch die sozialen und ökonomischen Aspekte begreifen: Digitale Teilhabe, so wie wir sie jetzt vorantreiben, darf nicht durch das Einkommen begrenzt werden. Alle Digitalisierungsinitiativen müssen von der SPD auch vor dem Hintergrund der sozialen Teilhabe gedacht werden.

  • 3,5 Milliarden EUR für den „Digitalpakt Schule“. Über den Fortschritt der Investitionsoffensive und die Zielerreichung werden Bund und Länder regelmäßig berichten.

IT-Infrastruktur bedeutet für uns: Hardware, Software, Cloud-Services und LehrerInnenausbildung. Wir unterstützen eure Vorhaben zu 100%, aber wir erwarten auch, dass die 3,5 Milliarden EUR zügig zur Verfügung gestellt, gerecht verteilt und unkompliziert abgerufen werden können.

  • Wir gestalten den Weg in die Gigabit-Gesellschaft mit höchster Priorität. Deshalb wollen wir den flächendeckenden Ausbau mit Gigabit-Netzen bis 2025 erreichen. [...] Dafür ist eine gemeinsame Kraftanstrengung von Telekommunikationsanbietern und Staat erforderlich. Wir gehen von einem öffentlichen Finanzierungsbedarf von zehn bis zwölf Milliarden Euro in dieser Legislaturperiode aus, die wir in einem Gigabitinvestitionsfonds verlässlich bereitstellen. Hierfür werden wir die Erlöse aus der Vergabe der UMTS- und 5G-Lizenzen zweckgebunden bereitstellen und wollen bis 2021 im Haushalt sicherstellen, dass das Fördervolumen insgesamt erreicht wird.

Wir nehmen euch beim Wort: Glasfaser, 2025, zehn bis zwölf Milliarden EUR. Es kann nicht sein, dass ein hochentwickeltes Land einen großen Teil seiner Bevölkerung sehenden Auges von alltäglichen digitalen Anwendungen ausschließt, weil das Internet nicht schnell genug ist – insbesondere nicht in den ohnehin strukturschwachen Regionen, dürfen wir niemanden mehr in dem Gefühl leben lassen, abgehängt zu sein!

  • Wir werden in einem digitalen Portal für Bürgerinnen und Bürger sowie für Unternehmen einen einfachen, sicheren und auch mobilen Zugang zu allen Verwaltungsdienstleistungen ermöglichen. Dazu vernetzen wir geeignete zentrale und dezentrale Verwaltungsportale in einem Portalverbund. In dem damit verknüpften Bürgerkonto hat der Bürger Einblick, welche Daten beim Staat vorliegen, welche Behörde darauf Zugriff genommen hat und kann den Umgang mit seinen persönlichen Daten steuern. Für die Umsetzung des Gesetzes zur Verbesserung des Onlinezugangs zu Verwaltungsleistungen (OZG) wollen wir 500 Millionen Euro zur Verfügung stellen.

Wir freuen uns über diese wichtigen Schritte auf dem Weg in die Digitale Verwaltung und werden die Entwicklung in diesem Bereich sehr genau im Blick behalten.

 

Aus dem Kapitel „Zuwanderung Steuern – Integration fördern und unterstützen“ des Koalitionsvertrags liegen uns die nachstehenden Punkte besonders am Herzen:

  • Wir bekennen uns […] zur UN-Kinderrechtskonvention und zur Europäischen Menschenrechtskonvention.

Wir freuen uns über dieses Bekenntnis, das aber unserer Meinung nach im Widerspruch zu einer weiteren Aussage aus diesem Themenkomplex steht. Nämlich zu der Passage zum Familiennachzug. Wie ist es rechtlich vereinbar, dass man sich zu den UN-Kinderrechtskonvention bekennt, die ausdrücklich das Recht des Kindes auf seine Familie beinhaltet, und gleichzeitig der Familiennachzug ausgesetzt wird?

  • Deswegen setzen wir unsere Anstrengungen fort, die Migrationsbewegungen nach Deutschland und Europa angemessen mit Blick auf die Integrationsfähigkeit der Gesellschaft zu steuern und zu begrenzen, damit sich eine Situation wie 2015 nicht wiederholt.

Was genau ist mit der Integrationsfähigkeit, die in diesem Themenkomplex ja besonders präsent ist, gemeint? Wer entscheidet über die Integrationsfähigkeit Deutschlands? Ist das eine messbare Größe? Ein Hinweis könnte die „Fachkommission der Bundesregierung“ liefern, die sich mit den Rahmenbedingungen der Integrationsfähigkeit befassen soll. Aber mit der expliziten Nennung der „Obergrenze von 180.000 bis 220000 geflüchteten pro Jahr scheint man ja bereits zu wissen, wie hoch diese Integrationsfähigkeit ist, wozu dann also noch die Kommission?

  • Wir stellen fest, dass die Zuwanderungszahlen […] eine Spanne von jährlich 180.000 bis 220.000 nicht übersteigen werden.

woher kommt die Größenordnung? Wer legt diese fest? Wie soll diese Zahl operative Umsetzung finden? Bei dieser Art von Obergrenze reihen sich sehr viele Fragen aneinander, die unserer Meinung nach dringend beantwortet werden müssen.

  • Wir wollen Fluchtursachen bekämpfen, nicht die Flüchtlinge.

Dieser Setzung stimmen wir in hohem Maße zu, nur fragen wir uns, ob die angeführten Maßnahmen, die allesamt dringend notwendig sind und schnellstmöglich umgesetzt werden müssten, umsetzbar und im Ermessenbereich des Bundesregierung allein sind. Auch finden wir zum Beispiel im Kapitel zur Wirtschaft und Finanzen kein Äquivalent zu der Forderung von fairer Handels- und Landwirtschaftspolitik und ähnliches. Kurz: was hier gewollt wird ist ehrenwert aber schwer umsetzbar, nur schwer messbar und damit auch kaum kommunizierbar.

  • Für die Frage des Familiennachzugs wird Bezug genommen auf das Gesetz zur Verlängerung der Aussetzung des Familiennachzugs zu subsidiärer Schutzberechtigten.

Den Familiennachzug auszusetzen halten wir aus humanitären Gründen für die falsche Maßnahme und hoffen, dass hier noch Änderungsmöglichkeiten bestehen.

  • Menschen mit Migrationshintergrund gehören zu unserer Gesellschaft und prägen sie mit.

Warum kann dann der zuständige Minister (Seehofer) das genaue Gegenteil behalten ohne, dass man Ihm sein Amt entzieht? Hier muss von Seiten des SPD härtere Forderungen gestellt werden, an Verantwortliche, die in der ersten Woche des Inkrafttretens dieses Vertrages sich nicht mehr daran halten und das Gegenteil behaupten.

  • Wir starten eine Qualitätsoffensive für die Arbeit des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge.

Wie soll diese aussehen? Gibt es Grund zur Sorge, dass das BAMF seine Arbeit bisher nicht gut genug gemacht hat?

 

Wir hoffen, du nimmst diese Zusammenfassungen und Anregungen mit in die Bundestagsdebatten. Über einen Kommentar, eine Rückmeldung, deinerseits würden wir uns selbstverständlich freuen. Natürlich bist du jederzeit eingeladen, gemeinsam mit unseren Genossinnen und Genossen zu diesen und weiteren Fragen im Distrikt ins Gespräch zu kommen.

 

Solidarische Grüße,

Gabor Frese, Agata Klaus, Ralf Meiburg

Für den Vorstand der SPD Eimsbüttel-Nord

 
 

E-Nord auf Facebook